Als Unternehmer anderen dienen
Taugt Minimalismus für Führungskräfte?
Sie müssen das erst mal für sich persönlich entdecken und in ihrem Leben anwenden. Da geht es um Fragen wie: Wer bin ich als Person und was sind meine Werte? Wie definiere ich Erfolg? Das Ziel eines Unternehmens sollte sein, anderen Menschen zu helfen und ihnen zu dienen. Dieses Ziel bringt ein Unternehmen hervor, auf das wir stolz sein können. Dazu muss man vielleicht kein Minimalist sein, aber diese Fokussierung ist dem Minimalismus schon sehr nahe.
Ist Minimalismus eine sinnvolle Reaktion auf Inflation und Wirtschaftskrise?
Ja. Ich habe den Minimalismus 2008 entdeckt, als wir in den USA eine leichte Rezession hatten. Wirtschaftliche Wirren sind eine großartige Zeit, um in den Minimalismus einzusteigen. Es gibt ja auch die Gegenreaktion der Hamsterkäufe, aus Angst vor einer ungewissen Zukunft. Viel besser ist es aber, zu entdecken, wie wenig ich tatsächlich brauche, um gut zu leben. Dann höre ich auf, Geld für Dinge zu verschwenden
Fange klein an, aber fange an
Wie steigt man am besten in einen minimalistischen Lebensstil ein?
Meine wichtigste Regel: Fange klein an, aber fange an. Viele machen den Fehler, dass sie auf dem Dachboden oder im Keller mit dem Entrümpeln beginnen. Und dort fragt man sich zum Beispiel: Wie kann ich mich von den Fotoalben trennen? Da sind sehr harte Entscheidungen zu treffen. Ich suche deshalb einen Raum aus, in dem es leicht ist. Vielleicht ist es das Auto, wo wir viel Zeit verbringen und das wir von unnützem Zeug befreien können. Trage raus, was du nicht brauchst. In wenigen Stunden kannst du ein völlig neues Lebensgefühl herstellen. Das motiviert uns, in den nächsten Raum zu gehen oder uns an die Garage zu machen.
Aufräumexpertin Marie Kondō fragt bei Dingen, die wir behalten wollen: „Lösen sie Freude in uns aus?“ Nach Ihrer Ansicht sollten wir aber besser fragen „Fördert es ein Ziel?“ Warum ist Ihre Frage besser?
Weil die meisten Menschen ja Dinge genau deshalb kaufen, weil das in ihnen Freude auslöst. Die Frage von Marie Kondō ist auch ein bisschen selbstbezogen, egoistisch. Als Nachfolger von Jesus Christus sollen wir selbstlos sein und anderen dienen. Deswegen sollte die Frage nicht sein, ob ich die Dinge behalte, die mich glücklich machen, sondern ob ich die Dinge behalte, die mir helfen, die Person zu werden, die Gott nach besten Kräften dient.
Was die Wirtschaft braucht
Mancher Unternehmer hat Angst: Wenn der Minimalismus wächst, schrumpft die Wirtschaft. Eine berechtigte Sorge?
Minimalismus bedeutet nicht, dass wir aufhören, Geld auszugeben. Er bedeutet, Geld für andere Sachen auszugeben. Die Wirtschaft muss sich dann natürlich wandeln. Weg davon, dass Menschen Dinge kaufen, die sie nicht brauchen. Die Leute kaufen auch weiterhin materielle Dinge, aber vielleicht von höherer Qualität oder von einem besseren Nutzen. Auch Dienstleistungen gewinnen an Bedeutung oder Reisen oder Geld für soziale Organisationen. Eine Wirtschaft, die komplett davon lebt, Menschen davon zu überzeugen, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, kann ohnehin nicht überleben. Am Ende fällt so eine Wirtschaft von der Klippe. Uns werden die Ressourcen ausgehen.
Was ist denn für Sie wirklich wichtig?
Drei Dinge. Erstens möchte ich der bestmögliche Nachfolger Gottes sein, der ich sein kann. Zweitens möchte ich meine Familie lieben, meine Beziehungen pflegen, zuerst die zu meiner Frau und zu meinen Kindern. Drittens möchte ich den größtmöglichen Einfluss auf diese Welt ausüben, den ich in meiner Lebenszeit ausüben kann.
Was am Lebensende zählt
Sie sagen in Ihren Büchern: „Niemand wird bei unserer Beerdigung unsere teure Couch oder unsere edlen Schuhe loben“. Was zählt am Ende unseres Lebens?
Es wird zählen, was wir in ihrem Leben zum Besseren verändert haben. Haben wir geliebt? Waren wir Vorbilder? Wie sehr wir geliebt haben, wird viel wichtiger sein, als was wir gekauft haben.
Wie hängen Dienen und Glück zusammen?
Alle Studien, die es zu diesem Thema gibt, sagen: Wer anderen hilft, wer ehrenamtlich arbeitet, wer spendet, wer großzügig ist, wer anderen dient – der erreicht das Ende seines Lebens mit einem höheren Niveau von Zufriedenheit, von Sinn und Erfüllung und Wohlbefinden. Ich habe gelernt: Die Wissenschaft holt immer wieder die Bibel ein. Denn das ist total nachvollziehbar, weil uns Gott so geschaffen hat, damit wir etwas für andere Menschen bedeuten. Es gibt eine voll sinnvollere Art zu arbeiten, als nur Dollars zu verdienen.
Sie haben einen Master in Theologie. Was hat Minimalismus mit dem christlichen Glauben zu tun?
Alles. Jesus sagt an so vielen Stellen, dass wir unseren Besitz loslassen sollen, dass wir uns den Armen zuwenden sollen, dass wir Schätze im Himmel sammeln sollen, dass es im Leben nicht um Materielles geht. Er erzählt vom dem reichen Narren, der die größere Scheune baut und dafür getadelt wird. Die Verbindung zum Minimalismus findet sich überall. Jesus lädt uns ein, weniger zu besitzen. Johannes der Täufer wurde gefragt, wie man sich auf das Reich Gottes vorbereiten kann, und er sagte: Wer zwei Hemden hat, gebe dem eines, der keines hat (Lk 3,11). Es gehört also zur Vorbereitung auf den Messias, sich von Besitz zu trennen.
Ich bin ja durch eine Nachbarin zum Minimalismus gekommen, sie war meines Wissens keine Christin. Ich hatte von den Predigten aus meiner Heimatgemeinde mitgenommen, dass Jesus will, dass wir alles hergeben. Das sah für mich nach einem ziemlich langweiligen Leben aus. Als ich dann angefangen habe, mich von Sachen zu trennen, habe ich ein Leben entdeckt, das tiefe Freude bringt. Ich kann mehr Geld und mehr meiner Zeit Gott widmen. Ich kann anderen besser helfen und Erfahrungen im Reich Gottes machen. Da steckt viel mehr Freude drin.
Dinge machen nicht glücklich
Sie bekennen sich in Ihren öffentlichen Äußerungen zum christlichen Glauben, stellen ihn aber nicht in den Mittelpunkt von Büchern und Blogbeiträgen. Betrachten Sie sich also nicht als Missionar?
Ich habe begonnen, über Minimalismus zu schreiben, als ich noch Pastor war. Auf einen Blogbeitrag, wo es ohne Bezug auf die Bibel um Ordnung und mehr Platz im Haus ging, reagierte eine Frau in den Kommentaren. Sie schrieb: „Das hilft mir sehr, danke, dass du deine Ideen hier geteilt hast.“ Ich habe mir dann ihre Internetseite angeschaut und festgestellt, dass sie zur Wicca-Bewegung gehörte, einem Hexenkult. Und dennoch hat sie meinen Blog gefunden und wurde dadurch gesegnet. Mir wurde klar, dass die Botschaft von Minimalismus Menschen hilft – egal, woran sie glauben oder nicht glauben. Tatsächlich möchte ich diese Botschaft so kommunizieren, dass sie bei jedem Resonanz finden kann. Wenn ich jemanden dahin bringen kann, dass er sein Glück nicht mehr im Materiellen sucht, dann wird er es woanders suchen müssen. Vielleicht findet er dann Jesus, vielleicht auch nicht. Minimalismus öffnet Menschen für die Fragen des Glaubens.
Wir danken für das Gespräch.
Joshua Becker, Jahrgang 1974, ist US-Amerikaner und ehemaliger Gemeindepastor. 2008 entdeckte er den Minimalismus für sich. Er begann, über das Thema zu publizieren. Heute gehört er zu den weltweit bekanntesten Förderern der Minimalismus-Bewegung. Becker wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern im US-Bundesstaat Arizona. Am 19. April erschien sein Buch „Die Kraft des Seinlassens“ im Bonifatius-Verlag (Paderborn) auf deutsch.
Dieser Artikel ist in der Zeitschrift faktor c Magazin, Ausgabe 1/23, erschienen