Warum christliche Spiritualität auch in ökologischen Themen ein Schlüssel für bleibende Veränderung sein kann, hat Andreas Bachmann-Roth für sich entdeckt.
Während der Corona-Pandemie kam der weltweite Flugverkehr beinahe zum Erliegen. Umweltschützer frohlockten: Was man nach Jahren des Aktivismus nicht schaffte, erledigte ein Virus über Nacht. Die Freude war von kurzer Dauer. Bis heute stieg die Anzahl der Flüge in der Schweiz fast wieder auf das Vor-Corona-Niveau.
Viele Flugpassagiere wissen durchaus, dass ihr Flug die Umwelt belastet – und fliegen trotzdem. Wir alle kennen dieses menschliche Phänomen: Wir wissen, was gut wäre, und tun es doch nicht. Nicht nur wenn es um Ökologie geht: Sport wäre gut – und doch finden wir uns vor Netflix wieder. Ein freundliches Wort würde die Beziehung stärken – und doch kritisieren wir. Die Schuhe gehören ins Regal – und doch liegen sie wieder im Flur. Paulus fasste prägnant zusammen: „Wir tun nicht, was wir eigentlich wollen“ (Römer 7,15).
Strategien zur Veränderung
Wir kennen heute verschiedenste Strategien, um das Verhalten der Menschen trotz ihrer Widerspenstigkeit in die gewünschte Richtung zu lenken. Wenig erfolgreich scheint der Appell an Moral. Der ausgestreckte Zeigefinger nervt nicht nur Kinder – er wird auch von uns Erwachsenen gern augenrollend ignoriert. Die Wissenschaft versucht durch Fakten, Zahlen und Bildung die Menschen zu lenken. Ein Blick in die Kommentarspalten der sozialen Medien reicht, um festzustellen, dass der Zusammenhang zwischen der Menge an Wissen und hilfreichem Verhalten auseinanderklafft. Der Mensch ist eben doch kein Gehirn auf zwei Beinen, wie man lange meinte. „Füttere den Menschen mit genug Daten und er verändert sich“ – dieses Motto geht oft viel zu wenig auf. Wir wissen heute unglaublich viel, und doch gehen Beziehungen in die Brüche, brechen Kriege aus und werden Menschen wie auch die Umwelt ausgebeutet.
Politik wie Wirtschaft versuchen über Zuckerbrot (Anreize) und Peitsche (Steuern und Gesetze) zu steuern. Das zeigt mitunter beachtliche Wirkung, in Deutschland etwa fiel mit Steuern und Schockfotos auf den Packungen der durchschnittliche Zigarettenkonsum seit 2003 von 363 auf 175 jährlich. Aber diese Strategie hat auch ihre Grenzen. Alkohol etwa wird trotz hoher Steuern weltweit fast ungebrochen konsumiert.
Aktivisten versuchen Veränderung durch Blockaden oder andere Aktionen einzuleiten. Nicht nur stießen aber etwa Klimakleber auf Wut und Aggression im Straßenverkehr, auch etliche Bürger und Bürgerinnen, die ihre Ziele grundsätzlich teilten, hinterfragten diese Form des Protests. Sicherlich lässt sich hier eine gewisse Doppelmoral beobachten: Manche, die eine heftige Bestrafung für Klimakleber forderten, zeigten wenig später für die Traktor-Blockaden der Bauernproteste großes Verständnis. Oft scheinen doch nicht die Formen des Widerstands, sondern die Inhalte eine größere Rolle bei der Ablehnung zu spielen ... Dennoch haben etwa die Klimaschützer der „Letzten Generation“ angekündigt, auf neue Formen des Protests zu setzen, auch weil die erhoffte breite Unterstützung aus der Bevölkerung ausblieb. Auf anderer Ebene lässt sich beobachten, dass die apokalyptische Weltsicht kurzfristig viel Energie zu wecken vermag, langfristig jedoch ein sehr ermüdender Antrieb ist.
Es sind schwierige Zeiten für engagierte Menschen, die gerne eine Entwicklung in eine aus ihrer Sicht besseren Gesellschaft erwirken wollen. Menschen erweisen sich als äußerst starrköpfig und die gewählten Strategien als begrenzt. Doch ein Weg ist bisher noch unbeleuchtet: die christliche Spiritualität.
Spiritualität als Schlüssel
Der christliche Glaube hat das Potenzial, Menschen und dadurch auch Gesellschaften bleibend zu verändern. Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Christentums genügt: Eine kleine Gruppe von Menschen hat die römisch dominierte Kultur des Mittelmeerraumes in wenigen Jahrhunderten komplett transformiert.
Die ersten Christen hatten dafür weder viele Mittel noch nutzten sie Gewalt. Vielmehr vertrauten sie auf die Überzeugungskraft und Schönheit des Evangeliums. Und diese christliche Botschaft setzt mit Veränderung auf einer tieferen Ebene an: Das Problem der Umweltkrise (wie auch anderer Krisen) ist nicht fehlendes Wissen oder Wille, sondern die Habgier, das falsch kalibrierte, eigensüchtige Herz der Menschen. Die Lösung des christlichen Glaubens ist daher eine göttliche Transformation unseres Innersten. Durch Jesu Tod und Auferstehung können wir an einer neuen Qualität des Lebens Anteil haben, zu
einem „neuen Menschen“ werden (vgl. 2. Korinther 5,17; Kolosser 3,10; Epheser 4,24). Diese transformierende Kraft des christlichen Glaubens ist stärker als Wissen, Geld, Angst oder Macht: Sie ist die verändernde Kraft der Liebe Gottes.Sie verwandelt und macht uns zu Liebenden. Liebende sind aus freien Stücken bereit, zu verzichten. Liebende suchen das Gute und Schöne für andere.
Das Motiv der Liebe kann auch unsere Sicht auf die Schöpfung verändern, wenn sie wahrnimmt, dass die Erde mehr ist als unsere Lebensgrundlage, die wir aus kühlem Eigennutz schützen sollten. Sie ist wertvolle und geliebte Schöpfung Gottes. Wir wenden uns ihr liebevoll zu, weil Gott sich ihr liebevoll zugewandt hat.
Liebe gibt uns nicht nur eine motivierende Perspektive, sondern auch den langen Atem, um dranzubleiben. Denn Christen haben das Vorrecht und die Chance, aus der Verbindung mit Gott, der Quelle dieser Liebe zu leben und Kraft zu schöpfen. Christen können es vielleicht nicht besser, aber länger.
Zuerst Liebende
Nach dieser Lobeshymne über das Christentum wenden einige vielleicht ein, dass vielen Christen und Kirchen diese Transformation nicht anzusehen ist. Das stimmt. Die Kirche hat oft darin versagt, die Transformationskraft von Gottes Liebe sichtbar zu machen. Gerade auch im Umgang mit der Schöpfung. James K.A. Smith legt in seinem spannenden Buch „You Are What You Love – The Spiritual Power of Habit“ dar, woran das liegen könnte und wie uns eine gelebte christliche Spiritualität helfen kann, als erneuerte Menschen zu leben. Der kanadische Philosophieprofessor zeigt eindrücklich, dass wir nicht so sehr über unseren Kopf, unseren Intellekt oder unser Verstehen gesteuert werden, sondern viel stärker von unseren Leidenschaften und Sehnsüchten. Wir Menschen sind zuallererst Liebende. Es zieht uns dorthin, wo unsere Sehnsüchte sind.
Wir alle haben unser Inneres auf etwas ausgerichtet. Wir alle tragen Sehnsüchte in uns. Martin Luther schrieb dazu sinngemäß: Es stellt sich nicht die Frage, ob wir etwas anbeten, sondern was wir anbeten. Diese Sehnsüchte prägen unsere Prinzipien, Charakterzüge und Gewohnheiten. Sie prägen unsere Tugenden, wie man in der Theologie das Bündel guter Eigenschaften und Verhaltensweisen nennt, das sich ein Mensch
mehr unbewusst als bewusst aneignet und verinnerlicht. Diese Tugenden (oder Un-Tugenden) formen unser Wesen und unser Tun beständig.
Der Charakter ist dabei so etwas wie der Autopilot, eine Art innerer Steuerungsmechanismus in unserem Leben. Den wesentlichen Einfluss auf unseren Charakter, auf unser Herz hat schlicht und einfach unsere tägliche Praxis. Denn nicht nur prägt unser Wesen unser Tun, sondern unser Tun prägt auch unseren Charakter. Unser Verlangen wird durch die Kraft der Gewohnheit, durch tägliche Praktiken und Rituale („Liturgien“), kalibriert. Anders gesagt: Die kulturellen Praktiken sind nicht nur Dinge, die wir tun, es sind Dinge, die etwas mit uns tun. Viele unserer Gewohnheiten sind dabei nicht von christlichen Tugenden geprägt. Konsum, Geld oder Erfolg bestimmen oft unsere Handlungen. James K.A. Smith schreibt, dass rivalisierende Götter und alternative Königreiche um unsere Liebe kämpfen. So kann unser Herz, unser innerer Kompass Fehlfunktionen haben und uns zu einem falschen Ziel führen – mit schwerwiegenden Konsequenzen.
Das bedeutet, dass unsere Liebe Richtung und Steuerung braucht. Doch wie soll das gehen? Denn Sehnsüchte können ja nicht direkt gesteuert werden. Was sich nicht unserem Einfluss entzieht, ist unser alltägliches Handeln. Wir können uns entscheiden, hilfreiche Automatismen in unseren Alltag einzubauen. Dabei gehen Tugenden in unser Unterbewusstsein über. Smith spricht dabei von „formativen Ritualen“. Was wir tun, tut etwas mit unserem Charakter. Wir können also zu christusähnlichen Menschen werden, die sich nach Gutem, Schönem und Wahrem sehnen, wenn wir christliche Rituale, sich wiederholende Praktiken, in unseren Alltag einbauen.
Es ist wie bei den ersten Auto-Fahrstunden: Jeder Handgriff brauchte unsere volle Konzentration und die Fülle an gleichzeitigen Entscheidungen war oft überfordernd. Nach einiger Zeit ist uns Blinkersetzen und Schalten jedoch so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es heute wie von selbst passiert. Mich faszinieren Menschen, denen zum Beispiel Freundlichkeit oder Aufmerksamkeit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Egal, ob das Gegenüber eine wichtige Persönlichkeit oder ein kleines Kind ist, sprudelt hoffnungsvolle Zuwendung wie von selbst aus ihnen heraus. Das ist selten angeboren, sondern meist eingeübt, oft in unzähligen Stunden der Stille vor Gott, in denen die freundlichen Worte Gottes sie tiefgreifend geprägt haben.
Rituale zur Schöpfung
Die alte Weisheit über christliche Nachfolge korrespondiert mit den neuen psychologischen Erkenntnissen, wie unser Bewusstsein geprägt wird. Rituale, die dabei helfen, können simple Dinge sein wie Tischgebete, Essensgewohnheiten, die freiwillige Mitarbeit in einem sozialen Projekt, der Besuch des Gottesdienstes oder regelmäßige Stille. Wie wäre es, wenn wir in unser Leben auch Rituale einbauen würden, die umsichtigen und genügsamen Umgang mit der Schöpfung fördern? Wenn wir eine bewusst einfache Mahlzeit zu uns nehmen, zu bestimmten Zeiten auf Shopping verzichten, regelmäßige Gartenarbeit
übernehmen, Spaziergänge im Wald einplanen oder Textlesungen, die eine ökologische Spiritualität integrieren?
Ein großes Potenzial sehe ich in den gemeinsamen Ritualen, die wir als Christen feiern. Hier üben wir miteinander das Leben als erneuerte Menschen, als Liebende ein. In Gemeinschaft geht vieles leichter. In vielen christlichen Traditionen ist die Liturgie, also die gemeinschaftliche Praxis des christlichen Lebens, über Jahrhunderte gewachsen und Ausdruck tiefer Weisheit. Mit dem Bewusstsein für die prägende Kraft von Ritualen legen wir vielleicht auch den Fokus gemeinschaftlicher Praxis anders. Wieso nicht Elemente wie Lieder, Texte und Gebete integrieren, in denen die Liebe zur Schöpfung thematisiert wird? Noch ist die Auswahl an entsprechenden Liedern, Gebeten oder Predigten bescheiden. Die Weltweite Evangelische Allianz hat gemeinsam mit dem Musikkollektiv „Porters Gate“ das Album „Climate Vigil Songs“ herausgegeben. Die tiefgründigen und in der Bibel verwurzelten Lieder thematisieren die Bewahrung der Schöpfung und sind frei verfügbar und zum Mitsingen im Gottesdienst gedacht. Bei uns in der Schweiz macht eine Liturgie auf der Basis des Vaterunsers die Runde, die bei einem ökumenischen Klimagebet eingeführt wurde. Zwei wunderbare Beispiele, wie ökologische Spiritualität und die Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung auch in uns zu keimen anfangen können. Wie wäre es, gemeinsam Praktiken einzuüben, damit wir bereits jetzt nach der „Melodie des Himmels tanzen“ können (Bernhard Ott)?
Andreas Bachmann-Roth ist Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz.