Can faith be green? Kann Glaube grün sein? So fragte der mittlerweile verstorbene New Yorker Pastor Tim Keller sehr plakativ in einer Predigt. Oder anders gefragt: Sind Christen die Lösung für Umweltprobleme oder das Problem?
Der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Lynn Townsend White setzte 1967 in seinem Aufsatz „The Historical Roots of Our Ecologic Crisis“ im Fachmagazin „Science“ ein scharfes Urteil dazu in die Welt: „Der Anthropozentrismus der jüdischchristlichen Tradition ist Hauptursache für den Raubbau der Natur.“ Sein Text hat damals weitreichende Diskussionen angestoßen und gilt als einflussreiche Argumentation, die bis heute nachdenklich macht.
Was ist da dran?
Gibt es Gründe dafür, warum Klima und ein enkeltauglicher, nachhaltiger Lebensstil in evangelikalen Gemeinden ein zurückgehaltenes Thema ist, obwohl es viele Mitglieder beschäftigt? Und … warum sollte und wie kann sich daran etwas ändern? Ich gehe auf Spurensuche in Geschichte, Einstellungen und Theologie und finde tiefer liegende Ursachen, an denen Veränderung möglich und aus meiner Sicht auch geboten ist.
Das Bild vom Menschen
Das positive Bild vom Menschen als Ebenbild Gottes, auch als „Krone der Schöpfung“ bezeichnet, ist auf eine bestimmte Art derart in den Vordergrund gerückt, dass wir uns als Gegenüber zur Natur empfinden, weniger als Teil von ihr. Folgerichtig nimmt der soziale Fokus, also die Diakonie, einen bedeutenden Raum ein, denn da geht es ja um Menschen. Der Dienst am anderen wird von vielen als DIE Weltzuwendung und DAS gesellschaftliche Engagement verstanden. „Gott lieben – Menschen lieben“. Punkt. Die Ge-Na Studie „Glaube. Klima. Hoffnung“ der CVJM-Hochschule belegte diese Priorität: Die Befragten stuften die soziale Gerechtigkeit als deutlich wichtiger im christlichen Glauben ein als die ökologische Nachhaltigkeit.
Diese Abhebung des Menschen von der Natur hat mit dazu beigetragen, dass unsere Erde und ihre Ressourcen vor allem als Nutzgut gebraucht und verbraucht werden. Auch wenn wir Natur wertschätzen zum Entspannen und Genießen und viele sich Gott dort nahe fühlen … letztendlich ist auch das
ein Nutzen der Natur.
Das Bild von der Welt
Zu der Überhebung des Menschen beschertuns die griechische Philosophie eine noch bedeutendere und wertende Trennung, einen Dualismus von Geist und Natur. Eine Abwertung des Materiellen, Natürlichen, Leiblichen gegenüber dem Geistigen und Geistlichen hat entgegen der hebräischen Weltsicht starke Wirkungen hinterlassen: einen Lebens- und Kulturpessimismus.
Bibelstellen über die gottferne, gegengöttliche „Welt“ scheinen das zu belegen. Verse wie „Habt nicht lieb die Welt“ (1. Johannes 2,15) und „Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Römer 7,18) führen nicht selten zu einer pauschalen Ablehnung der „bösen Welt“ und des „bösen anderen“. Trotz Geringschätzung oder Ablehnung der materiellen Welt vertrauen wir aber auf technische Lösungen und Fortschritt und genießen die Vorzüge, die Technologie und Wohlstand hervorgebracht haben. Eine gewisse Widersprüchlichkeit darin lässt sich nicht leugnen.
Das Bild von der Zukunft
Im Kopf vieler Christen kreist der Vers „Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (2. Petrus 3,13), als ginge es darum, die Hände in den Schoß zu legen. Wenn ich glaube, dass die Welt am Ende eh den Bach runtergeht und der neue Himmel und eine neue Erde aus dem Nichts von Gott neu geschaffen werden, dann motiviert das wenig, für den Erhalt der sogenannten „gefallenen Welt“ zu arbeiten. In der Ge-Na Studie wurde auch diese Hypothese bestätigt: Wer von einer völligen Neuschaffung der Welt überzeugt war, zeigte weniger nachhaltiges Verhalten als andere Befragte. Aber lässt Gott seine Ideen und Entwürfe wirklich einfach so zurück und von uns endgültig kaputt machen?
Das Bild von anderen Kirchen
In der evangelikalen Geschichte hat auch politisches und religiöses Schubladendenken und die darauf aufbauenden Feindbilder zur Abschiebung ökologischer Themen geführt. Klima und Nachhaltigkeit galten nicht nur als „links“ oder „grün“, sondern auch als kirchlich „liberal“ und theologisch „pluralistisch“. Es galt als anrüchig, dass der Weltkirchenrat als erste Institution überhaupt 1976 ein globales Programm für Sustainability verabschiedet hat. Gott sei Dank ist diese oft polemische Lagerzuordnung in den letzten Jahrzehnten sehr verflacht. Z
usammengefasst: Wenn wir auseinandernehmen, was zusammengehört – Mensch und Natur, Geistliches und Natürliches, Gegenwärtiges und Ewiges und Gemeinde Jesu in ihrer Vielfalt – dann müssen wir uns nicht wundern, dass etwas kaputt geht. Um an dieser Stelle Veränderung zu schaffen, müssen wir anerkennen, dass unsere Vorstellungen aus unserer christlichen Sozialisation, nämlich was wir über uns Menschen, unsere Welt und andere denken, nicht unbedingt identisch ist mit Gottes Selbstvorstellung und Offenbarung. Unser Denken kann erheblich abweichen und es braucht eine Offenheit, es von der biblischen Offenbarung durch Jesus hinterfragen zu lassen.
Das Verhältnis von Gott und Schöpfung
Gott sagt ausdrücklich, dass die ganze Schöpfung „sehr gut“ ist, nicht nur der Mensch! Gottes Sehr-Gut bezieht sich auf „alles, was er gemacht hatte“ (Genesis 1,31). Wir Menschen sind Teil einer voll und ganz sehr guten Schöpfung. Wir sind nicht nur die „Haushalter über die Schöpfung“, unsere Rolle geht nicht darin auf, dass wir über die Schöpfung herrschen und sie benutzen. Wir selbst sind und bleiben voll und ganz Teil der geschaffenen Natur. Wir sind untrennbar abhängig von ihr, von der Luft, dem Wasser, dem fruchtbaren Boden in ihrer gottgeschaffenen Qualität. Wir sind einzigartig in unserer Kommunikationsmöglichkeit mit Gott, ja. Aber sie enthebt uns nicht der geschöpflichen Natur.
Das Bild von der materiellen Welt
Daraus ergibt sich auch, dass wir die geschaffene materielle Welt nicht abwerten und von der geistlichen Realität trennen können. Gott hat „die Welt“ geliebt (Johannes 3,16). Er selbst „wurde Fleisch und Blut“ (Johannes 1,14). Inkarnation, leibliche Auferstehung und die Ausgießung des Geistes „auf alles Fleisch“ (Apostelgeschichte 2,17) zeigen uns, wie Gottes Leben und Liebe mit allem Geschaffenen zusammengehören. Gott reut seine Schöpfung nicht (mehr). Der ganzheitlich gebende Gott lässt die ganze Schöpfung seine Herrlichkeit loben (Psalm 19), und uns ehrfurchtsvoll staunen über geniale Ordnungen, über Fruchtbarkeit und eine grundlegend schenkende Ökonomie. Das Evangelium von der Erlösung bringt nicht nur den Menschen „Seelenheil“, sondern das Evangelium und die Hoffnung auf Wiederherstellung „der ganzen Schöpfung“ (griechisch kosmos; Markus 16,15).
Wim Schippers, Christ und Pionier in niederländischer Agrarwirtschaft, spricht von einer notwendigen „bodennahen Gemeinschaft“ zwischen Mensch und Erde: Unsere Beziehung zu Gott heilt nicht nur unsere Beziehung zu Menschen, sondern umfassender unser Verhältnis zur Erde. Essen ist dann auch eine ganzheitliche Beziehungserfahrung, wenn wir die beteiligten Menschen und auch die organischen Prozesse in Boden, Pflanzen und Tieren im Entstehungsprozess bewusst wahrnehmen.
Das Bild von der Zukunft
So ist auch das gängige Bild von der Zukunft, dass die Erde den Bach runtergeht und Jesus uns Christen von der Erde weg in einen Himmel oben holt, mit wesentlichen Aussagen der Bibel nicht vereinbar. Nicht die Zerstörung durch uns macht Schluss hier, sondern das Kommen von Jesus. Jesus holt uns nicht, sondern die ewige Stadt kommt auf die Erde (Offenbarung 21,2).
Kann es sein, dass Himmel und Erde so vergehen und neu werden, wie schon unsere Erneuerung als Menschen beschrieben wird? Wo schon jetzt „das Alte vergangen“ ist, und „ganz Neues begonnen“ hat (2. Korinther 5,17)? Wie das Ende, der Weg zur neuen Welt durch Jesu Kommen, wie die „Verwandlung“ (Hebräer 12,27) und die „Wiederherstellung aller Dinge“ (Apostelgeschichte 3,21) genau aussehen wird, bleibt ein Geheimnis und übersteigt unser Denken weit. Ich glaube, dass es eine Kontinuität geben wird, genau wie auf unserem Weg in eine „neue Schöpfung“, die wir geworden sind. Jesu leibliche Auferstehung und viele Aussagen über die Zukunft im Alten und Neuen Testament weisen in diese Richtung. Der britische Neutestamentler Tom Wright belegt in seinem Buch „Von Hoffnung überrascht“ fundiert, dass die Zukunft der Erde und der Umbruch dahin ebenso verstanden werden kann und werden sollte.
Wenn es Kontinuität zwischen alter und neuer Erde gibt, macht es Sinn, dass sich die Liebe von Jesus auch im Bemühen um die Erneuerung und Wiederherstellung von Gottes materieller und organischer Welt ausdrückt. Was wir hier auf der Erde zur Lösung beitragen, wird auch im Himmel seinen Platz haben – ganz im Sinne von Jesu Ausspruch in Matthäus 18,18: „Wenn ihr etwas auf der Erde löst, wird es im Himmel gelöst sein.“ Sein begonnenes Reich wird durch uns sichtbar, wenn Menschen „unsere guten Werke sehen und unseren Vater im Himmel preisen“ (Matthäus 5,16) und wir setzen Zeichen der Hoffnung auf die Erneuerung von Mensch und Welt.
Vorzeichen der Erfüllung
In seinem Buch „Berufung – Eine neue Sicht für unsere Arbeit“ (Brunnen) erzählt Tim Keller die Geschichte „Leaf by Niggle“ des Herr-der-Ringe-Autors J.R.R. Tolkien nach und für unser Bemühen um Erneuerung dieser Erde gilt, was Tolkien mit dieser Geschichte ausdrückt. Tolkien schrieb sie in einer Zeit als er verzweifelte, weil es schien, dass er nach Jahrzehnten Arbeit den „Herr der Ringe“ bei Kriegsbeginn nicht zu Ende bringen würde. Niggle ist in Tolkiens Geschichte ein Künstler, der den ultimativen Baum malen möchte, sich aber in Blattdetails verliert. Er wird auf eine Reise geschickt, muss sein Gemälde zurücklassen und leidet am unfertigen Schönen … bis er in dem neuen Land, das er schließlich erreicht, seinen Baum fertig und vollendet in Realität erlebt. Sein Unvollendetes war eine Vision des Wahren, ein signalhaftes Vorzeichen der endgültigen Erfüllung. „Jede Arbeit“, so schreibt Tim Keller, „selbst die einfachste, die wir als von Gott Begabte und Berufene tun, kann die Welt für immer verändern“, ob wir's wissen oder nicht.
Das heißt für unser Bemühen, für unser Arbeiten für ökologische Nachhaltigkeit, dass es einzahlt auf die „neue Welt, in der endlich Gerechtigkeit herrscht“ (2. Petrus 3,13). Tim Keller fasst es so zusammen: „Was du auch anstrebst in deiner Arbeit – die Stadt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen, die Welt der Schönheit, die große Geschichte, die neue Ordnung, die Heilung – es ist wirklich da! Es gibt einen Gott und es gibt eine neue, heil gewordene Welt, die erschaffen wird, und durch deine Arbeit zeigst du deinen Mitmenschen ein Stück davon. (…) Und wenn du dies weißt, (…) wirst du mit Befriedigung und Freude arbeiten. Deine Erfolge werden dir nicht zu Kopf steigen und deine Niederlagen werden dich nicht zerbrechen.“ Und jedes Bemühen wird auf den hinweisen, der Erneuerung möglich machen und Wiederherstellung vollenden wird.
Klaus Nieland ist Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Gottmadingen, Coach und Supervisor, sowie Mitaktivist der Gemeinwohlökonomie. Außerdem ist er Mitgründer von Hearts@Ventures, einer CoCreation Agentur für ganzheitliche und nachhaltige Start-ups.